Über Sowjets in der Russischen Revolution und warum das kein Schnee von gestern ist «Aus der Räte-Idee keinen Fetisch machen!»

Sachliteratur

Unzählige Bücher sind im letzten Jahr zur Russischen Revolution erschienen. Einige davon beschäftigen sich nicht erneut mit den berühmten Figuren und ihren vermeintlich genialen Streichen, sondern wagen etwa eine Geschichte «von unten».

Betriebsversammlung im Petrograder Putilowwerk, 1917.
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Betriebsversammlung im Petrograder Putilowwerk, 1917. Foto: Unbekanntwikidata:Q4233718 (PD)

4. April 2018
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Dazu gehört auch Rainer Thomanns und Anita Friedetzkys «Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland». Das Buch richtet den Fokus auf die Masse der Arbeiter*innen, Soldaten und Bäuer*innen – also auf die eigentlichen Protagonist*innen der Revolution von 1917 – und beleuchtet eingehend deren genuine Organisationsform: die Räte. Wir haben mit dem Winterthurer Autor gesprochen.

Rainer, warum sollten wir uns eigentlich hundert Jahre nach der Oktoberrevolution wieder mit dieser beschäftigen?

Die Russische Revolution hat wie kaum ein anderes Ereignis fast das ganze 20. Jahrhundert entscheidend geprägt. Die Geschichte wird bekanntlich immer von den Siegern geschrieben. In diesem Fall waren es die westlichen Bourgeoisien auf der einen Seite und die neuen Machthaber im Kreml auf der andern. Was die einen stets als «Militärputsch» verteufelten, wurde von den andern als «revolutionärer Aufstand» in den Himmel gelobt. Für eine kritische Aufarbeitung der Geschichte war während des Kalten Krieges kaum Spielraum vorhanden. Um nicht als Abtrünniger, Verräter oder gar Spion verdächtigt zu werden, musste man sich entweder für die eine oder für die andere Seite entscheiden.

Jede Kritik an der Sowjetunion (und ihrer Geschichte) wurde als «Antikommunismus» ausgelegt, genauso wie es umgekehrt hiess: «Dann geht doch nach Moskau!» Seit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des Ostblocks sind bald dreissig Jahre vergangen. Erstaunlicherweise – das haben die Veröffentlichungen zum hundertsten Jahrestag der Russischen Revolution gezeigt – unterscheiden sich die meisten Beurteilungen nur unwesentlich von jenen zur Zeit des Kalten Krieges. Sie sind zwar weniger schroff, haben sich also etwas abgeschliffen. Dafür scheinen sie umso gefestigter zu sein.

Die Oktoberrevolution, insbesondere der vermeintliche «Sturm auf den Winterpalast», gilt bei vielen innerhalb der radikalen Linken auch heute noch als Inbegriff einer Revolution. Wie es wirklich war und dass es diese Erstürmung (wie sie 10 Jahre später in einer bekannten Filmszene nachgestellt wurde) in Wirklichkeit nie gegeben hat, scheint niemanden zu kümmern und ist den meisten vermutlich nicht einmal bewusst. Eine kritische Aufarbeitung der Geschichte sollte sich deshalb zunächst einmal darum bemühen, die Ereignisse – möglichst unvoreingenommen und ohne diese sogleich werten zu müssen – so zu schildern, wie sie sich tatsächlich abgespielt hatten. Mit einer solchen Methode würden die Chancen beträchtlich steigen, allmählich zu verstehen, weshalb die Russische Revolution in einer Sackgasse endete.

Die Geschichte wiederholt sich zwar nie; die äusseren Umstände ändern sich, wie auch die Personen, die darin eine Rolle spielen. Verblüffend ist jedoch, dass gewisse Mechanismen und Prozesse stets nach demselben Muster oder zumindest ähnlich ablaufen. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis zwischen Führern und Geführten, zwischen der Dominanz einzelner Individuen und der (zunächst freiwilligen, später dann erzwungenen) Unterordnung aller andern. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang, wie sich aus emanzipatorischen sozialen Bewegungen zunächst politische Organisationen und Parteien herausbilden, die sich irgendwann verselbständigen und die – um überhaupt relevante gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu können – nach der politischen Macht greifen, wenn die Chance dazu gekommen ist.

Dies sehr wohl mit tatkräftiger Unterstützung jener Bewegungen, aus denen sie hervorgegangen sind und ohne deren Hilfe sie nie an die Macht gekommen wären. Gleichzeitig macht sich bei der Basis schon bald ein gewisses Unbehagen bemerkbar, das von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, stärker wird. Eindrücklich ist, wie schnell jeweils das «Zeitfenster» für Veränderungen, wie sie sich die Basis erhofft hatte, geschlossen wird. Druck von unten aufzubauen ist in der Regel danach genau so schwierig wie vorher oder sogar noch schwieriger. Ein besonders dramatisches Beispiel dafür ist zweifellos die Russische Revolution. Aber auch andere, aktuelle Beispiele laufen nach vergleichbaren Mustern ab. Man denke nur an den Wahlsieg von Syriza im Januar 2015… Kurzum, um diese Prozesse zu verstehen, ist es durchaus lohnend, sich nochmals mit der Oktoberrevolution zu beschäftigten. Gleichzeitig können wir uns dabei auch von all den Mythen und Legenden befreien, die sich um sie ranken.

Dein Buch verstehst du als Betrachtung der Revolution «von unten». Du stellst die Politikgeschichte «vom Kopf auf die Füsse». Wie geht so was?

Man muss von den tatsächlichen Ereignissen ausgehen und erst dann schauen, welche Rolle die einzelnen Personen darin gespielt haben. Auf diese Weise bekommt man ein ganz anderes Bild, als wenn man die führenden Figuren ins Zentrum stellt und die Geschichte so darstellt, als würde sie sich hauptsächlich um diese herum drehen und von diesen gesteuert werden. Bei Beginn der Revolution von 1917 waren praktisch alle Parteiführer in der Verbannung oder im Exil. Nur ganz wenige Personen, die danach eine führende Rolle gespielt haben, befanden sich in Petrograd, am Ort des Geschehens. Die Revolution hat trotzdem (oder vielleicht sogar deswegen) stattgefunden. Welchen unheilvollen Einfluss die Parteiführer auf die weiteren Ereignisse hatten, ist im Buch ausführlich dargestellt.

Die erstmals auf Deutsch veröffentlichten Protokolle des Fabrikkomitees der Putilow-Werke, dem bedeutendsten Industriebetrieb Russlands zur Zeit der Revolution, erlauben einen Blick direkt in den «Maschinenraum» der Revolution, wenn man so sagen will. Demgegenüber konzentrieren sich andere Bücher zumeist auf die Vorgänge auf der «Kommandobrücke». Die häufigen Szenenwechsel in meiner Darstellung der Geschehnisse des Jahres 1917 sind nicht zuletzt deshalb aufschlussreich, weil sie klar machen, wie unterschiedlich die Beurteilungen der konkreten Lage, die Bedürfnisse des täglichen Lebens und die Vorstellungen über die Weiterführung der Revolution bei denen «unten» und jenen «oben» waren. Eine Diskrepanz, die bereits nach wenigen Wochen zu einer Entfremdung zwischen dem zentralen Sowjet und seiner Basis führte. Ein Graben, der sich im Sommer 1917 immer weiter öffnete und der nicht mehr zu überbrücken war. Solche Vorgänge sich nicht nur abstrakt vorzustellen, sondern konkret nachvollziehen zu können, halte ich für enorm wichtig, um zu verstehen, weshalb die wohl bedeutendste Revolution des 20. Jahrhunderts gescheitert ist.

Deine Ko-Autorin Anita Friedetzky hat erstmals die Protokolle des Fabrikkomitees der Putilow-Werke ins Deutsche übersetzt. Warum habt ihr euch gerade für diese Quellen entschieden? Was macht sie interessant?

Im Zusammenhang mit einem andern Thema war ich vor einigen Jahren bei der Lektüre zufällig auf die russischen Fabrikkomitees gestossen. In der deutschsprachigen Literatur werden sie, sofern sie überhaupt auftauchen, insofern als bedeutsam für den Verlauf der Revolution dargestellt, als sie beispielsweise als «die eigentlichen Herren der Industrie» nach der Oktoberrevolution bezeichnet werden. Die Fabrikkomitees, so kann man in der gleichen Quelle lesen, seien «Stützpunkte der radikalsten Strömungen in der Arbeiterbewegung» gewesen, eine «Hochburg der Anarchisten und Syndikalisten». Das machte mich neugierig.

Zu Beginn des Jahres 1918 – so viel ist sicher – wurden sie formell entmachtet, indem sie in die Gewerkschaften eingegliedert wurden und damit ihre Unabhängigkeit verloren. Gemäss einer anderen Quelle (Isaac Deutscher. Die sowjetischen Gewerkschaften) sollen es die Bolschewiki gewesen sein, die sich einige Wochen nach der Oktoberrevolution an die Gewerkschaften gewandt hätten, um ihnen zu helfen, die Fabrikkomitees «zu zügeln». Solche eher vagen Hinweise in der Sekundärliteratur bildeten den Ausgangspunkt zum nun vorliegenden Buch.

In einem auf Russisch veröffentlichten Sammelband von 1979 sind die Sitzungsprotokolle der Fabrikkomitees der vier grössten Petrograder Industriebetriebe abgedruckt. Aufgrund unserer beschränkten Mittel mussten wir eine Auswahl treffen. Indem wir uns für die Putilow-Werke entschieden, hofften wir, anhand des grössten und bedeutendsten Betriebes die Entmachtung der Fabrikkomitees Anfang 1918 nachvollziehen zu können. Das letzte veröffentlichte Protokoll datiert jedoch vom 10. Oktober 1917. Was danach geschah, ist aus dem Sammelband nicht ersichtlich.

Zunächst sah es also so aus, als würden die übersetzten Protokolle hinsichtlich der engeren Fragestellung des Buches keine neuen Erkenntnisse bringen. Stattdessen bekamen wir tiefe Einblicke in die konkreten Alltagprobleme, welche die Petrograder Industriearbeiterschaft im Jahre 1917 beschäftigten, sowie in die bewundernswerten Versuche, diese Probleme solidarisch und basisdemokratisch zu lösen. Diese Diskussionen waren von ganz anderer Natur als die endlosen, nächtelangen Debatten im zentralen Sowjet, der vom Machtkampf zwischen den Fraktionen und politischen Parteien zunehmend gelähmt wurde (ein Machtkampf, der irgendwann im Bürgerkrieg endete). Die Lektüre der Protokolle des Putilow-Fabrikkomitees gewährt deshalb eine ganz andere Sicht aus einem ungewohnten Blickwinkel auf die Russische Revolution.

Die Frage der Entmachtung der Fabrikkomitees im Jahre 1918 ist übrigens für mich noch nicht restlos geklärt. Die Vorstellung, bei dieser Entmachtung seien «die Bolschewiki» die treibende Kraft gewesen, weil jene die Herrschaft ihrer Partei hätten gefährden können, ist nicht nur eine allzu grobe Vereinfachung. Sie ist darüber hinaus allein schon deshalb unzutreffend, weil die betrieblichen Aktivist*innen in den Fabrikkomitees mehrheitlich selbst den Bolschewiki angehörten oder mit ihnen sympathisierten. Die Gründe für den raschen Zerfall der Arbeitermacht nach der Oktoberrevolution sind daher deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Einige wesentliche Anhaltspunkte sind im Buch dargestellt. Für eine befriedigendere Antwort sind weitere Forschungen nötig, insbesondere ein vertieftes Quellenstudium der entscheidenden Monate unmittelbar nach der Oktoberrevolution.

Du schreibst, die Räte (Sowjets) seien das Markenzeichen der russischen Arbeiterbewegung gewesen. Warum waren Räte gerade in Russland so verbreitet?

Der russische Fabrikarbeiter war zunächst nur saisonweise in der Industrie beschäftigt. Er liess Frau und Kinder im Dorf zurück und blieb Mitglied der Dorfgemeinschaft. Allmählich zogen auch Frauen nach, die sich entscheiden mussten, ob sie Kinder und Familie haben oder das Dorf verlassen und in die Fabrik gehen wollten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten die bereits in der Stadt geborenen Industriearbeiter*innen stärker in den Vordergrund. Wenn auch nicht bewiesen, so ist die Vermutung dennoch naheliegend, dass die Erfahrungen der ländlich geprägten Arbeiterschaft mit den Dorfversammlungen in der russischen Dorfgemeinschaft (Obschtschina) die Entstehung von Arbeiterräten zumindest begünstigten.

Eine andere Erklärungsmöglichkeit bilden die Versuche der zaristischen Regierung, die rasch wachsende Arbeiterbewegung einzudämmen. Den Arbeiter*innen wurde 1903 das Recht zugestanden, aus ihrer Mitte sog. «Fabrikälteste» zu wählen, also eine Art «Personalkommission». Das Gesetz blieb jedoch weitgehend toter Buchstabe, weil die Fabrikanten darin eine Einschränkung ihrer unternehmerischen Freiheit sahen, während die Arbeiter*innen ihren selbst gewählten Streikkomitees mehr Vertrauen schenkten. Bis zur Revolution von 1905 waren diese Streikkomitees die einzige, allerdings illegale Form gewerkschaftlicher Organisierung. Blieben die Komitees auch nach dem Ende eines Streiks bestehen, entwickelten sich daraus Fabrikkomitees, aus denen wiederum, wenn sie sich vernetzten, lokale Arbeiterräte entstanden.

Der bekannteste war der Petersburger Arbeiter-Delegiertenrat im Herbst 1905. Im gleichen Jahr wurden auch die ersten Gewerkschaften nach westeuropäischem Muster gegründet. Ständigen gesetzlichen Einschränkungen und staatlichen Verfolgungen ausgesetzt, fristeten diese jedoch bis 1917 ein Schattendasein. Die Unterdrückung durch das zaristische Regime dürfte daher ein Hauptgrund sein, weshalb sich in Russland lange Zeit keine grossen Gewerkschaftsverbände wie in Westeuropa entwickelten und stattdessen die unmittelbar in den Fabriken gewählten Streikkomitees bzw. Fabrikkomitees als dauerhafte Einrichtung zur vorherrschenden Organisationsform der russischen Arbeiterbewegung wurden. Zusammenfassend scheint es plausibel, dass es eine Kombination der Erfahrungen mit den Dorfversammlungen der Obschtschina und der besonderen politischen Verhältnisse in Russland war, welche die Räte zum «Markenzeichen» der russischen Arbeiterbewegung werden liess.

«Arbeitermacht» ist bei dir ein zentraler Begriff. Was verstehst du darunter?

«Arbeitermacht» im weitesten Sinne ist jeder erfolgreiche Versuch, der Verwandlung der menschlichen Arbeitskraft in eine Ware aktiven Widerstand entgegenzusetzen. Um erfolgreich zu sein, muss dieser Widerstand kollektiv erfolgen. «Arbeitermacht» kann daher als kollektive Gegenwehr derjenigen, die (mit den Worten von Karl Marx) «nur solange leben, als sie Arbeit finden, und die nur solange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapitel vermehrt», verstanden werden. Fast man den Begriff etwas enger, bedeutet «Arbeitermacht» die Fähigkeit der Arbeiter*innen, der Verfügungsmacht der Kapitalbesitzer über die Produktionsmittel Grenzen zu setzen und sie konkret in Frage zu stellen, und zwar in dem Sinne, dass jene zwar (vorläufig) deren formelle Besitzer bleiben, sie jedoch faktisch ihre Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel (und über jene, die damit arbeiten) verloren haben. «Arbeitermacht» ist somit eine kollektive Gegenmacht der Arbeiter*innen, die sich gegen deren Unterwerfung unter die Zwänge der Lohnsklaverei richtet. Positiv ausgedrückt bedeutet «Arbeitermacht» die gemeinsame Wiederaneignung des eigenen Lebens durch die Erlangung der Verfügungsmacht über die Produktionsmittel.

«Arbeitermacht» ist, anders formuliert, das Resultat einer sozialen Bewegung, deren Individuen sich zusammengeschlossen haben, um gemeinsam für ihre Interessen als Arbeiter*innen zu kämpfen und somit gegen ihre Unterwerfung unter die Lohnsklaverei mit all deren Folgen. Es handelt sich konkret um einen Kampf: gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft für einen Lohn, der meistens knapp das wirtschaftliche Überleben sichert; gegen den Kräfteverschleiss durch gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen und die Länge des Arbeitstages (einschliesslich Arbeitsweg und Erreichbarkeit für den «Arbeitgeber» auch in der vermeintlichen «Freizeit»); gegen die Abhängigkeit vom Eigentümer der Produktionsmittel, der nach Belieben Leute einstellen und wieder entlassen kann; gegen dessen Willkür und die seiner Beauftragten.

Die äusseren Formen der Lohnsklaverei haben sich zwar im Laufe der Jahre und Jahrhunderte geändert, nicht jedoch ihr Charakter. Die geschminkten und modisch gekleideten Verkäuferinnen in einem Supermarkt oder Tankstellenshop des 21. Jahrhunderts mögen auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben mit den bäuerlichen Textilarbeiterinnen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie rechtlos sie als Arbeiterinnen auch heute noch sind, sieht man spätestens dann, wenn sie einmal den Versuch wagen, sich gemeinsam gegen ihre unerträglichen Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. Dasselbe liesse sich über ihre männlichen Kollegen sagen, die beispielsweise als Staplerfahrer oder Kommissionierer in einem Logistikbetrieb arbeiten, sehr oft als temporär Beschäftigte oder Scheinselbständige, oder die im Auftrag eines Paketdienstes Waren abholen und ausliefern.

Es geht mit andern Worten darum, die Gemeinsamkeiten des Kampfes gegen die Lohnsklaverei vor 100 Jahren in Russland und heute zu begreifen. Die Besonderheit besteht jedoch darin, dass es damals den russischen Arbeiter*innen – zum ersten Mal in der Geschichte! – gelang, sich von den Fesseln der Lohnsklaverei zumindest ein Stück weit zu befreien und erfolgreich eine Gegenmacht im dargelegten Sinne aufzubauen. Als die Petrograder Arbeiter*innen nach dem Generalstreik und dem Sturz der zaristischen Herrschaft im März 1917 in die Fabriken zurückkehrten, war nichts mehr wie vorher. Viele leitende Angestellte waren geflohen; mit denen, die noch da waren oder zurückkehrten, musste man eine Übereinkunft finden. Faktisch kontrollierten die Belegschaften mit Hilfe ihrer Fabrikkomitees die Produktion. Wie auf der politischen Ebene gab es auch auf wirtschaftlichem Gebiet eine Art «Doppelherrschaft». Oft sabotierten die Fabrikbesitzer deswegen die Produktion, so dass die Fabrikkomitees auf eigene Faust Rohmaterial und Brennstoffe besorgen mussten – weshalb sie übrigens von Lenin als «Laufburschen der Kapitalisten» verspottet wurden.

«Arbeitermacht» im beschriebenen Sinne ist zunächst hauptsächlich eine Gegenmacht auf wirtschaftlicher Ebene. Sie wird dann zur politischen Macht, wenn Regierung und Parlament eines Landes gezwungen sind, auf sie Rücksicht zu nehmen und beispielsweise bestimmte Gesetze zu erlassen bzw., im Falle von geplanten arbeiterfeindlichen Gesetzen, diese zurückzunehmen. Die Entwicklung von der vernetzten betrieblichen Arbeitermacht, also der faktischen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel (während die Kapitalbesitzer deren formelle Eigentümer bleiben), zur politischen Macht – einer Macht, die neue Formen von Produktion und Austausch jenseits der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse erleichtert, kurzum: all dies, was man üblicherweise unter einer «sozialen Revolution» versteht – dieser Prozess ist zweifellos der schwierigste und dornenvollste der ganzen Geschichte. Dies nicht zuletzt aus dem Grund, weil die in den Betrieben herangewachsene Arbeitermacht gezwungen ist, mit andern gesellschaftlichen Kräften, konkret: den sog. «Mittelschichten», Bündnisse einzugehen. In der Schweiz beispielsweise gehören 60 Prozent der Bevölkerung zum «Mittelstand». Dass es auch unter solchen Umständen für eine betriebliche Arbeitermacht nicht unmöglich ist, die Mehrheit der Bevölkerung (zumindest vorübergehend) hinter sich zu scharen, das zeigt das Beispiel der Officina Bellinzona im März 2008.

Die Schwierigkeit beim Übergang zur politischen Macht besteht für die in den Betrieben entstandene und vernetzte Arbeitermacht nicht zuletzt darin, dass sie diese Aufgabe nicht einfach an andere delegieren kann: an Angehörige anderer gesellschaftlicher Klassen, namentlich an Intellektuelle und die von ihnen dominierten politischen Parteien. Das Thema war vermutlich vor 100 Jahren – und insbesondere in Russland, wo mehr als in andern Ländern zwischen dem Handarbeiter und dem Büroangestellten eine scharfe Trennung bestand – weit brisanter als heute, wo viele, die einen Hochschulabschluss besitzen, gezwungen sind, unter prekären Arbeitsbedingungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Dennoch muss die Problematik im Auge behalten werden. Dies gilt namentlich in Bezug auf die linken Gruppen und Organisationen, die mit ihrem Avantgarde-Anspruch und ihrer Insidersprache eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen und der realen Welt der Lohnabhängigen errichtet haben. Sollten solche Organisationen und Parteien je wieder die Chance bekommen, nach der politischen Macht zu greifen (was nach menschlichem Ermessen zum Glück so gut wie ausgeschlossen ist!), dann wäre die Gefahr ausserordentlich gross, dass sich Vorgänge wie in Russland nach 1917 wiederholen könnten.

Zum Schluss: Taugt die Räte-Idee heute noch? Wie müsste sie modifiziert, beziehungsweise aktualisiert werden? Oder siehst du sie gegenwärtig bereits irgendwo aufkeimen?

Festzuhalten ist zunächst, dass die Arbeiterräte in Russland weniger eine «Idee» im Sinne eines theoretisch-ideologischen Konzepts waren, als vielmehr – wie bereits dargelegt – aus dem Kampf geborene Strukturen: Streikkomitees, die nach dem Ende des Streiks bestehen blieben und zu Fabrikkomitees wurden, deren Anfänge in der Revolution von 1905 wurzelten. Gesamtstädtische Arbeiterräte wie der im Oktober 1905 gegründete Petersburger Arbeiter-Delegiertenrat hatten die Aufgabe, die Bewegung über die einzelnen Betriebe hinaus zu organisieren und zu koordinieren. An diese Erfahrung knüpften die aus dem Gefängnis befreiten sozialistischen Funktionäre an, als sie am Nachmittag des 27. Februar 1917 (nach damaliger russischer Zeitrechnung) zur Einberufung des Petersburger Rats der Arbeiterdelegierten aufriefen. Da die Revolution ihren Sieg den meuternden Soldaten zu verdanken hatte, wurden diese noch am gleichen Abend als Soldatendelegierte in den Rat aufgenommen, der fortan «Petersburger Rat der Arbeiter- und Soldatendelegierten» hiess. Dominiert wurde dieser jedoch weder von Arbeitern noch von Soldaten, als vielmehr von dessen Exekutivkomitee und den darin vertretenen Intellektuellen (Ende März 1917 waren von den 42 Mitgliedern des Exekutivkomitees lediglich sieben Arbeiter). Die zunehmende Entfremdung zwischen dem Exekutivkomitee und seiner Arbeiterbasis wird im Buch ausführlich geschildert.

Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass die Form keine Garantie für den Inhalt bietet. Häufig wird genau diese Form verklärt und eine vermeintliche «Rätedemokratie» als Alternative zur «Parteidiktatur» hingestellt. In Wirklichkeit hatten bereits im Mai 1917 die aus Exil und Verbannung zurückgekehrten Parteiführer die freischwebenden linken Intellektuellen im zentralen Sowjet verdrängt und übten dort ihre «Diktatur der Mehrheit» aus (formale Mehrheitsentscheide auf der Grundlage der Fraktionsdisziplin, die auf diese Weise «demokratisch» legitimiert waren). Zuerst die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die gleichzeitig Teil der Provisorischen Regierung waren. Nachdem sie im Herbst 1917 ihre Mehrheit verloren hatten, taten es ihnen die Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre gleich. Um die Mehrheit nicht wieder zu verlieren, schreckten die Bolschewiki auch vor Wahlfälschungen nicht zurück und liessen auf dem Sowjetkongress Anfang Juli 1918 unter einem Vorwand sämtliche Abgeordneten der linken Sozialrevolutionäre (die andern politischen Parteien waren bereits verboten) verhaften. Fortan waren die Sowjetkongresse reine Parteiveranstaltungen, auch wenn die «Räte» als Hülle zunächst bestehen blieben. Das war wie erwähnt bereits im Sommer 1918 und nicht etwa erst im Frühjahr 1921, wie die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands nahelegen könnte.

Man hüte sich deshalb, aus der «Räte-Idee» einen Fetisch zu machen! Viel wichtiger als die Form ist die Art, wie emanzipatorische soziale Bewegungen strukturiert sind. Damit schliesst sich der Kreis zu dem bereits am Anfang erwähnten Verhältnis zwischen Führern und Geführten. Informelle Hierarchien lassen sich aufgrund der Unterschiede in Bezug auf Alter, Erfahrung, Bildung und Wissensstand ohnehin nie ganz vermeiden. Wichtig ist darum, dass Delegierte nicht nur formal jederzeit abwählbar sind, sondern ihre Tätigkeit so ausrichten, dass keine Verselbständigung führender Organe stattfindet. Die Verantwortung dafür liegt jedoch in erster Linie bei der sogenannten «Basis», die sich nicht damit begnügen darf, eine Führung zu wählen, denen sie die Geschicke der ganzen Bewegung anvertraut.

Solche generellen Aussagen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede soziale Bewegung erheblichen Schwankungen unterliegt. Besonders gross ist die Gefahr einer Abkoppelung von der Bewegung, wenn diese aufgrund bestimmter Umstände am Abflauen ist und ein «harter Kern», der übrig geblieben ist, dennoch weitermachen will – oder aufgrund der Dynamik sogar dazu gezwungen ist. Um solche Abläufe zu untersuchen und zu verstehen, dafür eignet sich die Russische Revolution hervorragend. Dies allerdings unter der Voraussetzung einer kritischen, vorurteilslosen Aufarbeitung der Geschichte. Auf der Suche nach Vorbildern neigt der Mensch dazu, geschichtliche Ereignisse zu idealisieren, indem alle Schattenseiten, so lange es irgendwie geht, ausgeblendet werden. Lange Zeit galt die Haltung zur Sowjetunion als «Prüfstein» für eine revolutionäre Gesinnung, später geschah dasselbe in ähnlicher Art mit China und Albanien – oder mit Kuba oder mit Venezuela, dem angeblichen «Sozialismus des 21. Jahrhunderts».

Viele haben inzwischen im «Demokratischen Konföderalismus» Kurdistans eine neue Heilsbotschaft entdeckt und übersehen dabei beispielsweise den Personenkult, der um dessen Begründer betrieben wird, oder rechtfertigen ihn, so wie das früher mit den anderen genannten Beispielen geschah. Bezeichnend dafür ist die Antwort, die ich vor ein paar Jahren an einer Veranstaltung in Bern auf mein kritisches Votum hin von der Referentin bekam: «Warum bist du überhaupt hier, wenn du nicht mehr an die Revolution glaubst?» Eine kritische Solidarität besteht für mich im Bemühen, die Dynamik emanzipatorischer Bewegungen zu verstehen, ohne zu verurteilen oder zu idealisieren. Dies gilt sowohl für historische Ereignisse wie die Russische Revolution als auch für aktuelle Beispiele. Auf diese Weise würden die Gründe für das Scheitern eher nachvollziehbar, was im besten Fall dazu führen könnte, dass man nicht immer wieder in die gleichen Fallen tappt.

Preguntando caminamos. Besten Dank für dieses Interview!

Paul Kellner
ajour-mag.ch

Anita Friedetzky / Rainer Thomann: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. Berliner Buchmacherei 2017. 682 Seiten, ca. 25.00 SFr. ISBN 978-3-00-057043-8